Liebes Handballtagebuch!
Die Sommerpause hätte nicht schwärzer unterbrochen werden können. Vorgestern erreichte mich die Nachricht, dass Klaus Graafmann tödlich verunglückt sei.
Vor wenigen Jahren war bei der Kreisauswahl die zweite Trainerposition neben mir vakant. Im Vorfeld meinte mein Trainerkollege und ehemaliger niedersächsischer Tophandballer, dass seine Nachfolge noch wesentlich kompetenter besetzt werden würde - mit seinem Vater. Für mich war Klaus bis dato DIE Trainerlegende, den ich bis dahin nur von der Tribüne aus auf der Trainerbank erlebt hatte. Landesauswahltrainer. Norddeutsche Auswahl. Oberliga. Regionalliga. Und nun sollten wir gemeinsam eine Mannschaft trainieren...
"Harter Hund." "Alte Schule." "Spricht nicht mehr die Sprache der Jugend." "Kann nicht mit Kindern umgehen." "Hardliner." "Behandelt seine E-Jugendliche wie A-Jugend Oberliga Spieler." Alle schienen sie ihn besser zu kennen als ich. Kurz vor unserem ersten Trainingstermin rief ich bei ihm an, um ihn vorher mal kennen zu lernen. Wir verabredeten uns bei ihm zu Hause. Nach einigem Smalltalk dann die Gretchenfrage, die mich brennend interessierte: Was war mit der offensiven Abwehr? Klaus war knapp über sechzig, hat er die Entwicklung des letzten Jahrzehnts noch angenommen oder nicht? Man müsse nicht alles nachmachen, was die Verbände einem vorschreiben, meinte er schmunzelnd. Oha... Konfliktpotenzial. Dann plauderte er über alte Zeiten beim TSV Anderten und ich lauschte bis spät in den Abend.
Die Sichtung zur Kreisauswahl. "Und dann habe ich mir noch die Nr. 7 weiß notiert. Der ist mir auf Rechtsaussen einige Male als Rechtshänder positiv aufgefallen." Scharfer Blick von Klaus: "Nur dass wir uns richtig verstehen. Bei dem habe ich mir 'technisch schwach' notiert." Paff, a Watschn vom Altmeister.
Zunächst war Klaus mehr oder minder entsetzt über das Niveau. Wurfkraft, Koordination, Technik - es schien mir, als bereute er es, dass er sich noch einmal hatte überreden lassen. Nach und nach machte es ihm aber sichtlich immer mehr Spaß, die Jungs zu trainieren. Zwei der Bengels hatte er noch in den Minis selbst trainiert. Ich drängte immer wieder auf Abwehrtraining, er meinte, dass bei so vielen Defiziten alles andere zunächst wichtiger sei. Offen widersprochen habe ich nie, allenfalls ab und an mal ein wenig auf meine Art geprickt. Das kam bei Klaus nie gut an, er hatte wohl schon genug Klugscheißer erlebt.
Seine Trainingseinheiten bereitete Klaus akribisch vor und brachte alles zu Papier. "Nach dem Training werfe ich die Zettel weg. Damit ich nie in Versuchung komme, auf alte Trainingseinheiten zurückzugreifen." Egal wie das Training lief, hinterher bedankte er sich bei den Jungs für ihre Teilnahme. Das sollte der "harte Hund" sein?
Ich glaube, es war die Trainingseinheit nach einem Trainingsspiel. Klaus war nicht angetan von der Abwehrleistung und vor allem von der Einstellung zur Abwehr. Er setzte die versammelte Mannschaft auf die Tribüne, meinte, dass er normalerweise die kostbare Trainingszeit nicht mit Gerede verschwenden würde, aber es müsse mal sein. In der folgenden halben Stunde dozierte Klaus über Handball. Selten habe ich dreizehnjährige Jungs über diesen Zeitraum so still gesehen. Und ich habe in einer halben Stunde mehr über Handball gelernt als auf manchem Wochenendseminar.
"Harter Hund." Sicherlich. Ich kenne keinen anderen Trainer, der alle Fußballer aus der ersten D oder E-Jgd. in die zweite Mannschaft verbannt hätte. Und nur ganz wenige, die sich das hätten leisten können. Eigenhändig hatte er die Handballsparte des TSV Anderten mit nur einem einzigen Spieler aus dem Boden gestampft. "Mit einem kleinen blonden Spieler." Heute ist der TSV Anderten in der Regionalliga Herren und A-Jgd., die mB und C spielen regelmäßig um die Landesmeisterschaft. Klaus hat zeitweise von den Minis über mE bis A und erste und zweite Herren alle männlichen Mannschaften des Vereins trainiert. Als seine Enkel aus den Minis in die E kamen, widmete er sich der männlichen Jugend des Vereins seines Sohnes. Innerhalb von kurzer Zeit entstand hier eine Kinderhandballhochburg.
"Kann nicht mit Kindern umgehen." Ich habe mir die Zeit genommen, Klaus einen Nachmittag beim Training der mE und D über die Schulter zu schauen. Kaum ein Trainer kann besser mit Kindern umgehen. "Hardliner." Na und? Vielleicht bräuchten noch viel mehr Jungs einen solchen Trainer. Nein, mit Sicherheit brauchen viel mehr Jungs einen solchen Trainer. Und das erstaunlichste: Zunächst beklagte sich Klaus noch über die Folgen der offensiven Abwehr. Innerhalb des eigenen Vereins wurden schon die ersten Hexenjäger wach, die da einen Quertreiber vermuteten. Letzte Saison spielte seine mD als einzige Mannschaft in der obersten Klasse eine Manndeckung über das halbe Feld und wurde hinter der Übermannschaft überlegen Zweiter. Seine mE wurde mit Manndeckung und schnellem Kombinationsspiel auf erstaunlich hohem Niveau Kreismeister. Und dennoch bleibt mir die von ihm gelernte Skepsis: Man muss nicht alles nachmachen, was die Verbänden einem vorschreiben.
Ein ganz großer Trainer hinterläßt eine nicht zu schließende Lücke.
Dein Karsten