Hast du mein "verschleiern" persönlich genommen? So war's auf keinem Fall gemeint ...
Nein keine Angst. Ich nehme in einem Internetforum nur sehr wenig persönlich. Also nichts für ungut.
Zugegeben, Erinnerungen sind immer subjektiv, doch Zeitzeugen sind dennoch sehr wichtig in der Einordnung von Vorgängen. Wie sollten dann diverse "Purzelbäume" der Geschichte erklärt werden? Was wären denn die Historiker ohne die Überlieferungen aus der Antike oder dem Mittelalter? Oh, oh, oh...
Der Zeitzeuge ist scharf zu trennen vom Zeitgenossen und zeitgenössischen Quellen. Zeitzeugen berichten aus ihrer Erinnerung über ein in der Regel länger zurückliegendes Ereignis (siehe auch -> Guido Knopp und der 2. Weltkrieg), und da wie wir wissen die menschliche Erinnerung nie eine verlässliche Quelle ist - nichteinmal bei gerade stattgefundenen Verkehrsunfällen, wie dir jeder Polizist bestätigen wird - sind diese Berichte stets einer Kritik zu unterziehen. Das heißt nicht, daß Zeitzeugen die Unwahrheit erzählen, aber ihre subjektive Erinnerung muß immer in den jeweiligen Kontext eingeordnet und auf mögliche Euphorisierung, Dämonisierung, Banalisierung oder auch eine gezielte Darstellungsabsicht geprüft werden. "Qui bono?" gilt hier in besonderem Maße. Zudem schildern Zeitzeugen die mit größerem zeitlichen Abstand zu dem selben Ereignis zweimal befragt werden, dieses bisweilen in der späteren Befragung anders als in der früheren. Das ist ganz normal, denn unser Gedächtnis neigt dazu, Erlebtes auch mit zwischenzeitlich aufgenommenen Informationen zu vermischen. Zeitgenössische Zeugnisse und Schriftquellen sind etwas ganz anderes, aber auch hier kann es sein, daß diese aus Zeitzeugenperspektive verfasst und darum zunächst einer Kritik zu unterziehen sind (Kritik in in diesem Zusammenhang eine unvoreingenommene Überprüfung, und kann im Ergebnis die Erzählung durchaus auch bestätigen). Historiker werden "trockene" Quellen (Register, Dokumente, Urkunden, amtliche Aufzeichnungen, zeitnah gefertigte Tagebucheinträge - wobei hier wieder der Intentionsvorbehalt gilt) darum immer für glaubwürdiger einschätzen als spätere Erzählungen zu dem selben Ereignis. Darum ist der Zeitzeuge der "Feind" des Historikers, was natürlich nur ein Bonmot ist, in dem aber ein großer Funken Wahrheit steckt.
Ein prominentes Beispiel für so einen Fall ist Melanchthons Bericht über Luthers angeblichen Anschlag der 95 Thesen an die Tür der Wittenberger Schloßkirche, den er nach jüngeren Erkenntnissen bei Luthers Sekretär abgeschrieben hat. Melanchthon und Rörer waren durchaus Zeitgenossen und Weggefährten Luthers, aber dieser Bericht ist erst frühestens 1544 verfasst und erst nach Luthers Tod (1546) veröffentlicht worden (und mit einem Verzug von mehr als einem Vierteljahrhundert lange nicht mehr zeitgenössisch) und es ist erwiesen daß weder Rörer noch Melanchthon Zeugen des tatsächlichen Geschehens waren. Darum ist sehr anzuzweifeln, daß die berühmte Szene mit dem wütenden Mönch, der in seinem im Herbstwind wehenden Mantel den Hammer schwingt, die man in jeder TV-Doku bewundern kann (-> Guido Knopp) in dieser Form stattgefunden hat. Deutlich wahrscheinlicher ist, daß Luther eine Disputationseinladung zu diesem Thema an die Tür gehängt haben könnte, die in der Form damals üblich war und sich an seine akademischen Kollegen von der nebenan gelegenen Universität gerichtet haben würde (und nicht den wütenden Mob aufwiegeln sollte, der Luther in den hübschen TV-Dokus meist umringt. Zumal die Thesen auf Latein verfasst und dem Pöbel also gar nicht zugänglich waren). Außerdem kann dieses Ereignis frühestens Mitte November und nicht am 31. Oktober stattgefunden haben, weil bis dahin die Antwort des Erzbischofs noch ausstand und nicht vernünftigerweise anzunehmen ist, daß ein frommer Mönch wie Martin Luther einen Aufstand provoziert, bevor sein Anliegen von seinem Bischof beschieden wurde.
Trotzdem haben wir in Sachsen am 31.Oktober bis heute arbeitsfrei. Hier sehen wir, daß der Zeitzeugenbericht über Jahrhunderte hinweg ein Bild prägen kann, das zwar einprägsam ist und die erzählte Geschichte dramaturgisch sehr aufwertet, aber historisch höchstwahrscheinlich schlicht falsch und zur Erhöhung der Wirkmächtigkeit der Erzählung bewusst konstruiert worden ist. Das passiert natürlich eher, je prominenter der Zeitzeuge (und einen prominenteren Zeitzeugen der Reformation als Melanchthon gab es nicht) und je bedeutender die Folgen des geschilderten Ereignisses sind. So, und damit überlassen wir diesen Thread dann auch am besten wieder seinem eigentlichen Zweck. 