Die Diskussionen hier spiegeln ziemlich genau die Situation
und damit die Defizite wider, die speziell den deutschen Frauenhandball seit
vielen Jahren im handballerischen Nirvana verweilen lassen. Zwei grundlegende Probleme
möchte ich kurz skizzieren (um alles zu beschreiben, wären mehrbändige Romane
erforderlich):
Viele Kommentatoren jonglieren und spekulieren hier mit
Zahlen und Quoten und versuchen verzweifelt, damit die Ergebnisse und ihr Zustandekommen
zu erklären. Sie verkennen genau wie Verband und Trainerstäbe die Tatsache,
dass Handball weitaus mehr beschreibt als die Summe individueller Leistungen
der einzelnen Spieler. Eine solche Betrachtungsweise passt beim Kegeln, Curling
oder auch in der Biathlonstaffel, wo im Grundsatz die Summe der
Einzelergebnisse das Mannschaftsergebnis bilden. Handball dagegen bietet
(analog Basketball, Volleyball, Eishockey etc.) so unendlich viel mehr
Optionen, ein gutes Ergebnis zu erzielen. Man muss die Möglichkeiten nur
erkennen und verinnerlichen. Leider sehe ich gerade hier in Deutschland genau
das Gegenteil, man verfängt und verirrt sich regelmäßig in den selbst
auferlegten verbandsstrategischen und spieltaktischen Korsetts und verweigert
immer hartnäckiger die Selbsterkenntnis der eigenen tiefgründigen
Unzulänglichkeit.
Um einen Beleg für meine Position aufzuzeigen verweise ich
auf das seit vielen Jahren urdeutsche, übrigens auch bei unseren Herren immer
wieder festzustellende Defizit bei der Torwurfeffektivität. Es ist lange
bekannt, geändert wird genau nichts, Torwurftraining der Nationalmannschaft (wie
hier im Forum tatsächlich gefordert!) bringt da keine Linderung, im Gegenteil.
Die Ursachen liegen viel tiefer, in der Grundausbildung, ich gehe später nochmal
auf die tatsächlichen Zusammenhänge ein. Wer glaubt, ein Training analog dem Torwandschießen
im Aktuellen Sportstudio mit 2 (oder 4) Löchern in den Ecken einer Bretterwand
mit aufgemalter Torsilhouette kann hier irgendetwas zum Positiven verändern,
hat noch nie selber versucht, in einer entscheidenden Spielsituation den Ball
an der Torhüterin vorbei in das gegnerische Gebälk zu versenken.
Die Schlussfolgerungen zu diesem Dilemma darf sich wieder
jeder selber erarbeiten. Schon vor geraumer Zeit habe ich hier eine Zeit lang
mit Nachdruck auf diese problematische Entwicklung und ihre Hauptursachen
hingewiesen: Die Linie von Hörrmann und Co., alle Kraft und alle verfügbaren
Mittel in den Spitzensport zu stecken, um damit möglichst viel Geld zu
verdienen, hat auch im deutschen Handball (und nicht nur dort!) seine Spuren
hinterlassen. Was im Individualsport schon problematisch ist, hat für die Mannschaftssportarten
auf mittlere und lange Sicht letale Folgen. Der Breitensport als Basis für die
Suche und vor allen Dingen auch das Finden von Talenten für die Spitzenvereine verhungert
am ausgestreckten Arm und stirbt im Ergebnis dieser fatalen Strategie einen
langsamen aber leider endgültigen Tod. Was im gehuderten Profifußball noch mit teuren
Transfers aus dem Ausland kaschiert werden kann, zeigt in weniger privilegierten
Sportarten und selbst im Amateurfußball seine todbringende Kausalität:
Mangels strategischer und monetärer Unterstützung immer weniger
ehrenamtliches Engagement
==> dramatischer Rückgang der Nachwuchsarbeit insbesondere
im Amateurbereich
==> immer weniger Aktive ==> immer weniger Talente
==> immer weniger
Mannschaften ==> immer weniger Ligen
==> immer weniger Spiele ==> Notlösung
Spielgemeinschaften
==> immer weniger Regionalderbys ==> immer weniger
Zuschauerinteresse
==> immer weniger Neueinsteiger ==> immer weniger
Aktive, Trainer etc.
… usw. usw. ==> Das Siechtum ist unausweichlich und
mittlerweile wohl auch unumkehrbar.
Ein weiterer Punkt, den ich hier nur kurz anklingen lassen
möchte, der aber mindestens genauso wichtig ist: spielsinnentstellende Regeländerungen,
die unseren Sport zum Rennball haben verkommen lassen mit katastrophalen Folgen
für die Spielkultur (insbesondere hinsichtlich der Anzahl erfolgversprechender
Spielsysteme!), bringen noch ein weiteres Problem mit sich: Für nahezu alle
Positionen einer Mannschaft haben (interessanterweise mehr im Frauen- als im
Männerhandball!) jetzt bestimmte schnelligkeitsbetonte Spielertypen
entscheidende Vorteile gegenüber allen anderen, die entweder Athletik trainieren
bis zum Umfallen, ohne wirklich eine reale Chance zu haben, in dieser Hinsicht
das Niveau der Ausnahmesprinter je zu erreichen oder gleich aufgeben und
bestenfalls die Sportart wechseln. Ihre in anderen Bereichen liegenden Stärken
wie beispielsweise Spielintelligenz, situative Entscheidungskompetenz und vor
allen Dingen auch Wurfhärte/Wurfpräzision/Wurfcleverness können nicht zu
Geltung kommen und schon gar nicht weiterentwickelt und in ein Team
weitergetragen und verinnerlicht werden, solange Sie die geforderten rein
athletischen Grundparameter nicht erreichen. Die wenigen Ausnahmetalente, denen
sowohl die athletische als auch die spieltechnische Komponente gleichermaßen
und im Übermaß gegeben ist, sind viel zu rar gesät, als dass sie in der Breite
wirksam werden könnten.
Darüber hinaus ist nach meiner Wahrnehmung in Deutschland
nicht erst seit Beginn der Ära Gröner sowohl in der Nationalmannschaft als auch
bei vielen Bundesligateams die Athletik als Auswahlkriterium im Vergleich
beispielsweise zum Spiel- und Wurfvermögen wirklich extrem überbetont. Andere
erfolgreiche Handballnationen bauen ihre Spielstrategie in vielerlei Hinsicht
zumindest in wesentlichen Teilen auf die Potentiale ihrer talentiertesten und
leistungsstärksten Spielerinnen auf. In Deutschland wird mehrheitlich das
vermeintlich erfolgversprechendste Spielsystem quasi verordnet und die
Mannschaften um dieses System herum ausgewählt und aufgestellt. Wenn es im
Spiel dann nicht läuft (weil man im Verlauf eines Turniers immer ausrechenbarer
wird!), ist man in seinen taktisch/strategischen Fesseln gelähmt und (nicht nur
auf der Trainerbank) handlungsunfähig. Immerhin werden dieses Thema und die
damit zwangsläufig verbundenen Probleme (Stichwort Minevskaja, Behnke und Co.)
hier im Forum zumindest ansatzweise angesprochen. Der Schritt zur Erkenntnis,
dass genau dieser Aspekt die Ursache für die in den letzten Jahren mit
zunehmender Turnierdauer immer enttäuschenderen Verläufe ist, ist eigentlich
nur ein kleiner.
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die zunehmende
Verletzungsintensität. Die mit den Regeländerungen rasant zunehmende Dynamik
sprengt gerade im Handball mittlerweile alle Grenzen, die Biologie und Physik
gesetzt haben. Auch wenn die Medizin ebenfalls enorme Fortschritte gemacht hat,
kann sie dieses Problem nicht einmal ansatzweise lösen. Haben wir wirklich so
viele begnadete und leidenschaftliche Spielerinnen, dass wir regelmäßig in
jeder Saison, in jedem Turnier eine erhebliche Zahl auf dem Altar der (scheinbaren)
Attraktivität opfern? Ist die mittlerweile hemmungslose Rasanz des Rennballs
wirklich das einzige Element, dass ein allgemeines öffentliches Interesse über
die Grenzen der Handballfamilie hinaus generiert/garantiert? Ich glaube nicht.
Was ich auch nicht unerwähnt lassen möchte, weil auch in
diesem Zusammenhang die Attraktivität und Akzeptanz unserer Sportart zunehmend
in Frage zu stellen ist:
Die Schiedsrichterleistungen können gerade auch im
internationalen Maßstab mit der Entwicklung nicht einmal ansatzweise mithalten.
Was ich da in den letzten Jahren gesehen habe, ist von wenigen Ausnahmen
abgesehen so grauenhaft, dass es mir mittlerweile schwerfällt, hier
ausschließlich an Unvermögen zu glauben. Vielmehr scheinen die vielen
Regeländerungen und die dazu vorgegebenen Anwendungsempfehlungen bewusst so gestaltet
zu sein, dass den Schiedsrichtern eine maximale Einflussnahme auf den
Spielverlauf garantiert ist. Dass es auch im Spitzensportbereich weniger
talentierte Schiedsrichter gibt, ist unbestritten, aber meiner Meinung nach
nicht wirklich das Hauptproblem. Ich habe mir in diesem Zusammenhang auch immer
wieder Spiele angesehen, bei denen ich keine der beiden agierenden Mannschaften
favorisiere, mein vorstehend beschriebener Eindruck hat sich dabei eher noch
verstärkt.
Um wieder zum Thema des organisierten Niedergangs des
Handballsports in Deutschland zurückzukehren:
Interessant finde ich auch die Tatsache, dass unsere
Nationalmannschaft und unsere international spielenden Spitzenteams in ihren
Ergebnissen regelmäßig diese fatale Entwicklung widerspiegeln, ohne dass die Verbände
(Bundes- und Landesebene) auch nur ansatzweise reagieren. Genau dieses Problem
bildet sich auch hier im Forum ab, wo die Mehrzahl die dramatischen Warnsignale
vollends ignoriert und für den Status quo und ein "weiter so"
plädiert. Man ordnet regelmäßig wiederkehrende Totalausfälle als Augenblicksversagen
und nicht als Ergebnis einer systematischen Fehlentwicklung ein und verweigert
sich strikt auch nur dem Ansatz einer Kurskorrektur. So geht unser einzigartiger
Sport dahin und letztendlich von der breiten Öffentlichkeit nahezu unbemerkt unter.
Und das im Mutterland des Handballs!
Den Spielerinnen unserer Nationalmannschaft wünsche ich noch
möglichst viele erfolgreiche Spiele. Ich möchte betonen, dass ich ihre Leistungen,
die sie trotz der widrigen Rahmenbedingungen regelmäßig bringen, durchaus zu
würdigen weiß. Allen anderen Beteiligten wünsche ich ein unruhig-besinnliches
Weihnachtsfest und natürlich Gesundheit. Vor allem dort, wo normalerweise Verstand
und Intelligenz arbeiten.
PS.
Der letzte Absatz ist keineswegs bös gemeint. Er ist eher
als uneigennütziger Weckruf eines alten Handballknochens zu verstehen. Dass das
nicht nur Begeisterung hervorruft, liegt in der Natur der Sache. Auf die
Reaktionen warte ich deshalb sehr gespannt…