Die Grün-Weißen meistern den Tanz auf der Rasierklinge

  • 28.05.2003

    Von Gerhard Collinet
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    Die HSG D/M Wetzlar hat schon so manchen Knüppel zwischen die Beine bekommen. Von den Gegnern der "stärksten Handball-Liga der Welt" sowieso, von einigen Schiedsrichtern, aber auch von Verbandsfunktionären. Unter der Führung von Trainer Velimir Petkovic ist die Spielgemeinschaft aus Dutenhofen und Münchholzhausen im "Stahlbad Bundesliga" jedoch gleichzeitig zu einer äußerst resistenten Truppe gereift. Und die vielleicht nur deshalb jene beispiellose Verletztenmisere in ihrem fünften Jahr in der Beletage meistern konnte, unter dessen Eindruck die Ausbeute von 28:40 Punkten und der damit verbundene zehnte Platz im Abschlussklassement geradezu sensationell anmuten. "Diese Platzierung ist für mich ein viel größerer Erfolg als unser achter Rang aus dem Jahr zuvor", stellte Petkovic klar.


    "Björn Monnberg hat eine überragende Saison gespielt, Torhüter Axel Geerken eine sehr starke Rückrunde hingelegt, nachdem Waldemar Strzelec in der ersten Halbserie klasse gehalten hat", durfte "Petko" auf lediglich drei "Dauerbrenner" in der Saison 2002/2003 bauen. Ansonsten war der frühere Spieler und Trainer des Europacupsiegers Borac Banja Luca als Improvisationskünstler und Motivator immer neuer Angriffs- und Abwehrformationen gefordert: "Praktisch keine zwei Begegnungen hintereinander konnten wir mit der gleichen Rückraum-Linie bestreiten." Die lange Ausfallliste reichte von Linksaußen Arvydas Kestawitz, der sich im Auftaktspiel in Flensburg einen Wadenbeinbruch zuzog und drei Monate fehlte, über Spielmacher Nebojsa Golic (Leistenprobleme), Kapitän Andreas Klimpke (Meniskusverletzung) und Allrounder Sigurdur Bjarnason (Kreuzbandriss) bis hin zu Niko Bepler (Pfeiffersches Drüsenfieber), der sogar kein einziges Mal auflaufen konnte und dessen sportliche Karriere beendet scheint. Ganz zu schweigen von Rückraum-Ass Gennadij Chalepo. Wegen seiner Ballwurfattacke gegen Schiedsrichter Bernd Andler beim Spiel am 26. Oktober in Gummersbach handelte sich der Weißrusse mit deutschem Pass eine sechsmonatige Sperre ein und wechselte daraufhin bis Saisonende zu Grasshoppers Zürich. "Das war die schwärzeste Stunde der Runde für mich, zumal ich wegen einer roten Karte für drei Spiele von der Bank musste", blickt der 46 Jahre alte HSG-Coach im Groll zurück: "Da habe ich gedacht, die vom DHB wollen uns kaputtmachen, aus der Liga rauskriegen."

    Drittbeste Abwehr, schlechtester Angriff


    Dem gegenüber steht die erfreuliche Erkenntnis, dass seine Spieler in der Not ganz eng zusammenstanden. "Petkos Motto lautet: Jeder Ball ist Gold. Und wenn es vorne nicht läuft, muss man hinten noch dichter stehen. Das haben wir verinnerlicht", verrät der als Spielertrainer nach Island zurückkehrende "Sigi" Bjarnason das Erfolgsgeheimnis der HSG. Mit dem Torverhältnis von 846:918 stellte sie die drittbeste Abwehr der Liga, gleichzeitig aber den schlechtesten Angriff.

    Mit dem Ende 2002 verpflichteten Robert Sighvatsson bewiesen Petkovic und Manager Rainer Dotzauer ein ebenso gutes Händchen wie mit "Teilzeitarbeiter" Julian Duranona. Dazu zeigte der gelernte Linksaußen Arvydas Kestawitz Qualitäten in der Rückraummitte und auf der Halbposition und avancierte nach seiner vorzeitigen Rückkehr beim 29:27-Coup am 12. Dezember beim TV Großwallstadt im weiteren Verlauf zum "Allrounder der Saison". Und weil das Dutenhofener Urgestein "Wolle" Klimpke in seiner letzten Saison in der Deckung rackerte wie in allerbesten Zeiten (Petkovic: "Egal wer kommt, die Erfahrung eines Wolfgang Klimpke ist so schnell nicht zu ersetzen") und Robert Sighvatsson sowie Umberto Brajkovic unter Petkovic in der Abwehr Riesenfortschritte machten, erarbeiteten sich die Grün-Weißen allem Verletzungspech zum Trotz den Ruf der "Unabsteigbaren".

    "Das war das Aufregendste, was wir bisher erlebt haben", meinte der Sportliche Leiter Rainer Dotzauer, "aber auch wirtschaftlich war die Saison für uns ein Tanz auf der Rasierklinge. Den wir zum Glück, auch dank der guten Kontakte unseres Aufsichtsrates und mit Hilfe der Stadt Wetzlar, meistern konnten." Dass die Grün-Weißen allen Widrigkeiten zum Trotz am 29. August in ihre sechste Bundesligasaison gehen, freut keinen mehr als den Manager. "Die Lizenz ist bereits erteilt. Allerdings mit Auflagen, weil wir den Verlust aus der Saison 2001/2002 nicht ganz ausgleichen konnten", bleibt für Dotzauer und seine Mitstreiter noch viel Arbeit. Zunächst bis zum 30. Juni, "denn bis dahin müssen wir bessere Zahlen vorlegen". Und erst recht danach: Trotz eines Mini-Etats von zuletzt 1,125 Millionen Euro treibt der Manager den "Weg in eine größere Professionalisierung" weiter voran, wobei sein großes Ziel die Saison 2004/2005 ist. Ende 2004 könnten sich die finanziellen Möglichkeiten der Grün-Weißen deutlich verbessern. "Wir werden voraussichtlich unsere Rückrunden-Heimspiele der übernächsten Saison bereits in der Großsporthalle Wetzlar am Bahnhof bestreiten. Das hätte Auswirkungen auf die Zusammensetzung der Mannschaft, aber auch für Sponsoren", sind Dotzauers Planungen für den Umzug aus der 1750 Zuschauer fassenden Dutenhofener Halle in die Wetzlar Arena mit einer Kapazität von 4500 Menschen längst angelaufen. "Bis dahin müssen wir überleben", heißt die Parole Dotzauers, der sich nach der Verwirklichung seines großen Ziels aus der Führungsriege zurückziehen möchte.

    Sportlich sind die Weichen für 2003/2004 gestellt: Mit dem 60-fachen isländischen Nationalspieler Gunnar Berg Viktorsson (zuletzt Paris St. Germain) und dem langen Kai Kieselhorst vom Ligarivalen Wilhelmhavener HV sind zwei Neuzugänge unter Dach und Fach. Inwieweit die Integration der Jugendspieler wie Aljoscha Schmidt und Mario Allendörfer weiter vollzogen werden kann, hängt von ihrer Entwicklung in den nächsten Monaten ab. "Allendörfer muss unbedingt Kraft und Gewicht zulegen. Sonst ist sein ganzes Talent umsonst", weiß Petkovic. Im "Stahlbad Bundesliga" können nur ganze Kerle "überleben".


    Quelle: http://www.mittelhessen.de