Magdeburger Volksstimme vom 21.05.2003:
Nach fünf Jahren beim SC Magdeburg verlässt Olafur Stefansson den Verein, in dem er sich zu einem der besten Handballer der Welt entwickelte. Der Linkshänder spielt künftig in Spanien bei Ciudad Real. Mit dem 29-jährigen Isländer führte Volksstimme-Redakteur Mathias Fischer das folgende Interview.
Volksstimme: Der Tag des Abschiednehmens rückt unbarmherzig näher. Haben Sie in jüngster Zeit irgendwann gezweifelt, vielleicht doch zu früh bei Ciudad Real in Spanien den Vier-Jahres-Vertrag unterzeichnet zu haben? Dies passierte ja im März 2002 - bereits vor dem Gewinn der Champions League.
Olafur Stefansson: Puuh. Was für eine Frage. Eigentlich nicht.
Volksstimme: Keine Sekunde?
Stefansson: Na ja, im Augenblick, wo wir so klasse spielen, habe ich gespürt, dass wir mit dieser Mannschaft, wenn alle gesund sind, künftig unschlagbar sein könnten. Da arbeitet es heftig im Kopf. Leicht habe ich es mir ja auch zuvor nicht gemacht.
Volksstimme: Auf den Punkt gebracht. Warum Spanien?
Stefansson: Reine Neugier. Ein neues Land, eine neue Sprache, eine andere Mentalität der Menschen, eine andere Kultur, die Herausforderung Liga Asobal. Kurzum: Etwas Neues erleben.
Volksstimme: Sie sollen künftig zu den bestverdienensten Handballern Europas gehören. Erlagen Sie auch deshalb dem Lockruf der Iberer?
Stefansson: Um ehrlich zu sein: Der SCM hat mir das Gleiche geboten. Ich kann mich nur wiederholen: Der Reiz des Neuen treibt mich. Hier zu Lande steht Sicherheit über allem, aber das schließt neue Möglichkeiten aus. Ich will kein Opfer von Gewohnheit werden, plane auch nicht, was nach Spanien passiert.
Volksstimme: Dieselbe Triebfeder also, die Sie nach Deutschland führte?
Stefansson: Nein, 1996 war die Situation grundlegend anders. Damals bestimmte allein der Sport das Ziel. Deutschland als das Mekka des Handballs - darin lag der Reiz. Aber als Nobody hatte ich keine große Wahl, bin einfach mit dem isländischen Trainer Viggo Sigurdsson mitgelaufen, kam so zum Zweitligisten Wuppertal. Ein Super-Sprungbrett auf dem Weg zum SCM.
Volksstimme: Den Sie jetzt nach Henning Fritz und Gueric Kervadec als weiterer Meisterspieler verlassen. Wie sehen Sie die Perspektive des Teams?
Stefansson: Ich sehe meinen Weggang nicht so dramatisch wie den von Henning oder Gueric. In der Abwehr bin ich problemlos ersetzbar. Und wenn ein passabler Linkshänder kommt, im Angriff alle mehr Verantwortung als zurzeit übernehmen, ist die Mannschaft weiter sehr stark.
Volksstimme: Jetzt spielen Sie aber Ihre Fähigkeiten und Rolle ein bisschen weit runter, oder?
Stefansson: So sehe ich es. Fehlen werde ich sicherlich beim Konterspiel.
Volksstimme: Erstaunt es Sie, dass ein Klub wie der SCM bisher in ganz Europa keinen neuen Linkshänder gefunden hat?
Stefansson: Ich kenne die Hintergründe nicht, weiß nicht, was hinter den Kulissen läuft.
Volksstimme: Ihr Partner auf der rechten Seite, Joel Abati, sorgt sich, in Ihre Fußstapfen treten zu müssen. Zu Recht?
Stefansson: JoJo beunruhigt eher, künftig in fast jeder Partie durchpowern zu müssen. Das wäre in der Tat unzumutbar.
Volksstimme: Bleiben wir bei der Entwicklung des Handballs. Das Spiel hat an Rasanz zugenommen, wird immer schneller. Kritiker beklagen, es ist nur noch Rennerei, Spielzüge und herausgearbeitete Tore seien Mangelware. Ein berechtigter Vorwurf?
Stefansson: Außenstehende interpretieren die Dynamik oft zu Unrecht als Chaos. Topteams spielen Tempohandball sehr systematisch, strukturiert. Das ist kontrollierte Hektik.
Volksstimme: Dann sind 70 bis 80 Tore auch weiterhin möglich?
Stefansson: Ich glaube, die Torflut hat bald ein Ende. Jetzt fallen viele Treffer, weil die meisten Teams wie ein aufgescheuchter Hühnerhaufen völlig unorganisiert zurücklaufen. Wird defensiv klüger agiert, weniger gewechselt, pendelt sich die Quote wieder um 60 Tore ein.
Volksstimme: Der Isländer gilt als eher ruhig und besonnen. Sie lieben die Hektik im Spiel. Sind Sie kein typischer Nordländer?
Stefansson: Das sind Klischees. In Island musst du mit 20 zur Uni, mit 24 den Abschluss haben, dann arbeiten. Mit 25 sollte alles geregelt sein, sonst denkt man: Aus dem wird nie etwas, der landet auf der Straße.
Volksstimme: Die Laufbahn als Profi-Sportler also eine Art von Flucht?
Stefansson: Das ist zu übertrieben formuliert. Wer im Sport was will, muss Island verlassen.
Volksstimme: Da gilt ihre Familie als Paradebeispiel.
Stefansson: Zum Teil. Ich habe sechs Geschwister, davon spielt Jon-Arnor beim Basketball-Bundesligisten Trier, Eggert zieht es in die englische Fußball-Liga. Stefania ist zwar Tennis-Landesmeisterin, bleibt aber zu Hause, will studieren. Hildur, die Jüngste, ist gut drauf. Sie ist Tänzerin, geht vielleicht ins Ausland. Ich hoffe, sie kann sich in Ruhe entwickeln - so wie ich.
Volksstimme: In Ruhe? Beim SCM gab es anfänglich doch Probleme mit dem damaligen Trainer Lothar Doering, der sagte, mit Ihnen könne man keinen Krieg gewinnen. Hätten Sie damals gedacht, dass Sie sich hier zu einem der besten Handballer der Welt entwickeln würden?
Stefansson: Nein. Das war eine schwierige Phase. Ich begann an mir zu zweifeln, habe mich gefragt, ob ich doch nur ein durchschnittlicher Spieler sei. Aber ich habe geheim Einzeltraining gemacht, wollte mich nicht kaputt machen lassen. Dabei hat mir das Psychologie-Fernstudium geholfen.
Volksstimme: Inwiefern?
Stefansson: Jedes Training bildete damals eine Herausforderung, die Diskussionen usw. Ich lernte, mit Konflikten umzugehen, Lösungen zu suchen und zu finden. Als Sturkopf habe ich in dieser Phase einen wichtigen Lernprozess absolviert.
Volksstimme: Wie lautete die Quintessence?
Stefansson: Ein Schritt zurück kann dich zwei Schritte nach vorn bringen.
Volksstimme: Die Psychologie und der Einstieg von Alfred Gislason also als Rettungsanker?
Stefansson: Ja. Alfred spielt natürlich eine entscheidende Rolle. Aber nach der Entlassung von Doering war auch sein Nachfolger Peter Rost prägend. Er hat mir viel Selbstvertrauen gegeben. Ich habe gespürt: Du bist wichtig, wirst gebraucht. Erst wer das spürt, ist auch bereit, Opfer zu bringen.
Volksstimme: Würden Sie sich in dieser Hinsicht, also Opfer zu bringen, als Vorbild bezeichnen?
Stefansson: Im Spiel ja, außerhalb eher nicht. Ich habe mich nur mittelmäßig um das Team gekümmert. Da bewundere ich Torsten Friedrich. Er kam, engagierte sich, wollte kein Mitläufer sein, bewegt sehr viel.
Volksstimme: Sie haben sich aber bei Konflikten artikuliert, über die Art, wie Sune Agerschou abgeschoben wurde, echauffiert. Hat sich beim SCM das Klima verändert?
Stefansson: Innerhalb des Teams ist es besser geworden, von Jahr zu Jahr. Wie der Vorstand Spieler behandelt, ist eine andere Sache.
Volksstimme: Sie gelten mit Ihrer Philosophie als Musterprofi. Was zeichnet so einen Typ aus?
Stefansson: Wem es gelingt, mit dem Spiel eins zu sein, hat es geschafft. Ihn darf nichts irritieren, nichts ablenken, im Spiel nichts neben dem Feld existieren.
Volksstimme: Sie haben in fünf bewegenden Jahren viel bewegt, wertvolle Titel und Trophäen sowie Sympathien gewonnen: Verändert das die Person?
Stefansson: Weniger, eher das private Umfeld. Ich kam mit meiner Frau Kristin, jetzt haben wir mit Helga-Soffia und Einar zwei Kinder. Das krempelt alles um.
Volksstimme: Ihr Job bringt es mit sich, oft den Arbeitsplatz wechseln zu müssen. Lassen Sie Freunde oder Bekannte zurück?
Stefansson: Viele Bekannte, wenige, aber mir sehr wichtige Freunde, darunter "Kretzsche", werden mir fehlen.
Volksstimme: Der introvertierte Intellektuelle Stefansson und der Exzentriker Stefan Kretzschmar. Wie paßt das zusammen?
Stefansson: Anfangs überhaupt nicht. Aber wir haben uns beide verändert, so ist eine intensive Freundschaft gewachsen.
Volksstimme: Und welche sportlichen Momente bleiben als unvergesslich in Erinnerung?
Stefansson: Drei Erlebnisse. Das "Wunder von Metkovic", als wir in Kroatien den Europacup holten. Da spürte jeder erstmals: Als Mannschaft sind wir unbesiegbar. Kurz darauf die Konsequenz: die erste deutsche Meisterschaft - der wertvollste Titel. Und der Triumph in der Champions League - wir als erste deutsche Mannschaft Sieger in der Königsklasse. Sternstunden, die ich mein Lebtag nicht vergesse.
Volksstimme: Und welche Spiele würden Sie am liebsten aus dem Gedächtnis streichen?
Stefanssson: Jede Niederlage, aber besonders kürzlich das 22:26 zu Hause gegen Pamplona - das Aus in der Champions League. Da hätte ich die Zeit gerne angehalten und zurückgedreht. Ich wollte mich unbedingt mit einem Titel verabschieden.
Volksstimme: Das wäre möglich gewesen, oder?
Stefansson: Auf jeden Fall. Gegen Pamplona hatten wir leider Verletzungspech. Ein Grund könnte aber auch gewesen sein, dass sich nach dem Super-Jahr 2002 im Unterbewusstsein auch eine gefährliche Selbstzufriedenheit breit gemacht hat. Aber das ist Spekulation.
Volksstimme: Bei der Wahl "Welthandballer 2002" blieb Platz sieben. Sehr enttäuscht?
Stefansson: Ich bin ehrgeizig, will immer oben stehen. Diese Wahl wirft mich nicht um, spornt mich an, noch härter zu arbeiten. Und das werde ich.
Volksstimme: Dafür wurden Sie in Island zum "Sportler des Jahres 2002" gewählt. Mehr als ein Trost, oder?
Stefansson: Ich war 2001 Zweiter - als Meister. Also sagte ich mir: Du musst besser werden, die Champions League gewinnen, um Nummer eins zu werden. Da wir bei der EM zudem mit Island Vierter wurden, wählten mich die Landsleute zum "Sportler des Jahres" - das schönste Kompliment in meinem Leben.
Volksstimme: Sie haben mal gesagt, Profi-Handballer sei ein schöner Beruf mit viel Freizeit. Wird zu wenig trainiert?
Stefansson: Damit wollte ich ausdrücken, dass wir privilegiert sind. Wir haben die Möglichkeit, zweigleisig zu fahren. Ich z.B. brauche Kontraste, muss vom Sport abschalten können. Umso mehr freue ich mich dann jedes Mal auf Handball, genieße es.
Volksstimme: Sie haben bemängelt, dass vielen Spielern die kritische Reflexion der eigenenen Leistung fehle. Welchen Rat geben Sie, das zu ändern?
Stefansson: Ich führe ein Gedankenbuch - notiere, was ich im Spiel gut gemacht habe, wo ich Defizite hatte, um zu lernen. Das empfehle ich jedem Spieler. So verhindert man, immer wieder die gleichen Fehler zu machen.
Volksstimme: Ein Tipp besonders für Talente?
Stefansson: Ja, diejenigen, die früh Erfolg haben, stürzen oft schnell wieder ab. Wer sich alles kontinuierlich hart erarbeitet, kann Rückschläge besser ertragen. Mein Motto: Wenn Sturm kommt, muss ich gerüstet sein.
Volksstimme: Es gibt kaum vielseitige junge Spieler. Sind Sie eine aussterbende Spezie?
Stefansson: Das ändert sich bald. Wenn du kein kompletter Spieler bist, hast du heute keine Chance. Entweder du spielst vorn und hinten oder gar nicht.
Volksstimme: Sie haben ein gespaltenes Verhältnis zu Medien, lesen keine Handball-Artikel. Welche Ursache hat das?
Stefansson: Es gibt nur noch Helden oder Versager, nichts dazwischen. Das ist nicht meine Welt. Für die Analyse des Spiels sind mir Aussagen von Trainern und Mitspielern wichtiger.
Volksstimme: Sie wollten auch nicht, dass berichtet wird, dass Sie nach dem Terrorakt vom 11. September 2001 zum Beten in der Kirche waren, während der Flutkatastrophe nach dem Training beim Sandsackschleppen geholfen haben ...
Stefansson: ... weil das selbstverständlich war. Warum soll ich in der Zeitung stehen? Weil ich Handballer bin? Und tausende andere Helfer, die viel mehr geleistet haben, nicht?
Volksstimme: Ihr Wunsch fürs nächste Jahr?
Stefansson: Im Finale der Champions League gegen den SCM zu spielen, und eine Medaille bei Olympia in Athen.