ZitatAlles anzeigen
Diagnose - Selbst schuldVon Dr. med. Bernd Hontschik
Seit der allerletzten der unzähligen Gesundheitsreformen gibt es eine ganz und gar neue Kategorie von Diagnosen: die "selbst verschuldeten" Krankheiten des Paragraphen 294 a im 5. Sozialgesetzbuch. Für die dadurch verursachten Behandlungskosten kommt die Solidargemeinschaft nicht mehr auf, die Kosten muss der Kranke selbst zahlen. Das leuchtet doch jedermann sofort ein.
Zum Beispiel: Da sucht jemand ein Piercing-Studio auf und lässt sich einen Ring in die Nase, den Nabel oder eine der Lippen einziehen. Oft geht das ja gut, aber wenn doch eine Vereiterung auftritt, ein Abszess oder eine lebensgefährliche Blutvergiftung, muss ich als behandelnder Chirurg den Patienten ab sofort persönlich zur Kasse bitten. Er ist schließlich selbst schuld. Oder: Da lässt sich jemand eine Tätowierung anbringen, am Rücken, am Arm oder an versteckteren Stellen. Das geht auch meistens gut. Aber wenn nicht: Die Krankenkasse ist nicht mehr zuständig, der Patient ist schließlich selbst schuld. Oder: Da lässt sich jemand seine Brust vergrößern, sein Fett absaugen. Wenn das gut gegangen ist, reden wir nicht darüber. Aber wenn es zu Komplikationen kommt? Das muss jetzt auch selbst bezahlt werden. Schließlich hat den Patienten ja niemand gezwungen, sich zum Schönheitschirurgen zu begeben.
Aber weiter: Eine Frau geht zum Juwelier, lässt sich Ohrlöcher stechen. Es geht schief. Selbst schuld! Sie tragen modisches Schuhwerk und haben jetzt Fußschmerzen? Selbst schuld! Sie haben sich die Haare färben lassen, Ihre Kopfhaut ist allergisch geschwollen, hochrot und schmerzt? Selbst schuld! Sie essen zu viel, werden rund und fett, bekommen Diabetes, Bluthochdruck und werden gefäßkrank? Selbst schuld! Sie brechen sich beim Skifahren die Knochen oder sind gar beim Drachenfliegen abgestürzt? Selbst schuld! Sie rauchen, bekommen Lungenkrebs? Selbst schuld! Sie haben sich zu viel in der südlichen Sonne geräkelt? Hautkrebs? Selbst schuld! Sie steigen morgens in ihr Auto, fahren zur Arbeit, Sie verunglücken und gehören zu den Zehntausenden Schwerverletzten jedes Jahr? Selbst schuld?
Aber damit nicht genug. Die Gesundheitsreform wird nun schon wieder reformiert: Wir Ärzte müssen alle Patienten, die selbst an ihrer Krankheit schuld sind, ab 1. Januar 2008 "melden". Wem? Den Krankenkassen. Ärzte als Hilfspolizisten.
Ab 1. Januar müssen Sie sich also fragen: Habe ich die Krankheit vielleicht selbst verschuldet? Wird der Arzt mich vielleicht "melden" müssen? Kann ich das dann selbst bezahlen? Tja!
und ein leserbrief/ kommentar:
Zitat
Vorschrift mit fataler WirkungZu: "Selbst schuld" von Bernd Hontschik, FR-Wissen vom 3.11.
Wenn zum Beispiel nach Tätowierungen, Piercings oder Schönheits-Operationen gesundheitliche Probleme auftreten, müssen die Behandlungskosten aufgrund der letzten Gesundheitsreform in Zukunft von den Betroffenen teilweise selbst getragen werden. So weit, so populistisch. Herr Dr. Hontschik hat in seinem Kommentar sehr treffend den Blick geöffnet für die Konsequenzen aus dieser Verschuldensdebatte. Seine Liste von Beispielen lässt sich noch verlängern: Was ist mit den Verletzungen im Breitensport? Denn es sind keineswegs die immer wieder bemühten Drachenflieger, die hohe Behandlungskosten verursachen, sondern Fußballer und Handballer im örtlichen Verein. Und was ist mit den Kosten einer lebenslangen Aids-Therapie bei Menschen, die den Rat zu Safer Sex (vielleicht nur ein einziges Mal) nicht befolgt haben? Hier hat eine Vorschrift in die Gesundheitsgesetze Einzug gehalten, die fatale Wirkungen entfalten und das Gesundheitssystem nachhaltig verändern kann - nicht zum Besseren. Und es wird wieder einmal Bürokratie aufgebaut statt abgebaut. Insgesamt ein sehr bedenkliches Unterfangen.
Norbert Klusen, Vorstandsvorsitzender der Techniker Krankenkasse,
Hamburg
quelle