Ich kann. Ich will. Ich muss

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    Joachim Deckarm
    Heute vor 28 Jahren schockte ein Sturz die Handballwelt: Deckarm knallte auf den steinharten Boden und blieb regungslos liegen. Die Diagnose: Schädelbasisbruch und Gehirnquetschungen. 131 Tage lag er im Koma. Aber „Jo“ kämpft – bis heute.

    Handball heute? „Vergleichen mit früher“, erinnert sich Joa chim Deckarm, „geht nicht. Das Handballspiel hat sich grundlegend geändert. Die Schönheit ist aus dem Spiel gewichen. Athletik, Kraft und Härte bestimmen heute das Geschehen. Ich finde es schade, aber es ist nun mal so.“

    Und wenn er schon mal dabei sei, könne er auch gleich weiter Kritik üben. Heute bestimme doch das Geld, wo die beste Mannschaft spiele. Ob in der Bundesliga oder im Ausland. „Ich habe es eigentlich nie gesagt, doch heute kann es mir ja keiner mehr übelnehmen: Ich hatte damals auch ein Angebot, von Gummersbach nach Großwallstadt zu wechseln. Ehrlich, ich habe mir das nicht mal durch den Kopf gehen lassen“, sorgt er gut dreißig Jahre später noch immer für Klarheit. Gespräche mit dem ehedem besten Handballspieler der Welt drehen sich meistens noch immer um Handball.

    Lebensgefahr

    Obwohl der Weltmeister von 1978 eigentlich alles andere als angenehme Erinnerungen daran haben dürfte. Zwar ist Handball noch immer sein Leben – der 53-Jährige besucht auch weiterhin die Heimspiele des saarländischen TV 08 Niederwürzbach –, doch um ein Haar hätte ihn dieses Spiel fast das Leben gekostet. Am 30. März 1979, als der VfL Gummersbach – mit Deckarm und Heiner Brand – im Europapokal-Spiel beim ungarischen Verein Banyasz Tatabanya antritt.

    Es ist ein grauer Freitag, daheim im Rheinland, an dem in den Zeitungsredaktionen niemand über Handball diskutiert, sondern über die Teilschmelze des Reaktorkerns im AKW Three Mile Islands im amerikanischen Harrisburg. Alle – Feuilletonisten wie Sportreporter – reagieren wie aufgeschreckte Hühner: Kann das auch bei uns in Deutschland passieren? Im Fernseher tanzen währenddessen deutsche und ungarische Handballspieler über einen bläulich glänzenden und gefährlich glatt aussehenden Hallenboden.

    Bis zur 23. Minute. Da bekommt Deckarm bei einem Tempogegenstoß den Ball auf Hüfthöhe zugespielt, stößt dabei in der Luft mit seinem ungarischen Gegenspieler Lajos Panovic mit dem Kopf zusammen und prallt – im Fall bereits bewusstlos – mit dem Hinterkopf auf einen scheinbar weichen Kunstoffboden. Doch der entpuppt sich als dünner Überzug auf steinhartem Beton. Deckarm wird sofort in die rund fünfzig Kilometer entfernte Johannesklinik nach Budapest gefahren.

    131 Tage

    Dort ergibt die erste Diagnose: doppelter Schädelbasisbruch, schwere Gehirnquetschungen und ein zehn Zentimeter langer Riss in der Hirnhaut. Der wurfgewaltigste Torjäger Europas – regungslos, ohne Reaktion auf Ansprache und äußere Reize, aber mit offenen Augen und funktionierendem Kreislauf – wird erst in die Uniklinik Köln, neunzig Tage später – immer noch im Wach-Koma – in die saarländische Uniklinik Homburg verlegt.

    Professor Hans-Joachim Hannich vom Institut für Medizinische Psychologie an der Universität Greifswald erklärt Deckarms Krankheitssymptom so: „Das Erleben und Empfinden eines Wachkoma-Patienten ist in etwa vergleichbar mit dem Empfinden eines Säuglings, nach dem Prinzip: ‚Es tut weh – es tut nicht weh‘, oder: ‚Es tut wohl, es tut nicht wohl.“ Wobei sich unter dem Begriff „Wachkoma“ ein schweres, komplexes Krankheitsbild verbirgt, bei dem sich die Patienten über Wochen, Monate oder sogar Jahre in einem Stadium zwischen tiefem Koma und Wachbewusstsein befinden können.

    Als „Jo“, wie ihn seine Freunde rufen, nach 131 (!) Tagen aus der monatelangen Dämmerung zwischen Nichtleben und Nichtsterben erwacht, fühlt sich dieser 1,94 Meter große Modellathlet und einst so kregle und muntere Medizinstudent in der geistigen Welt eines Kleinkindes gefangen. Zum zweiten Male in seinem Leben lernt er, die Worte „Mama“ und „Papa“ zu formen, einen Löffel zum Mund zu führen, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Das alles, vor allem aber denken und schreiben, lehrt ihn von 1982 an sein väterlicher Freund und ehemaliger Entdecker, der Handball-Trainer Werner Hürter.

    Der 1995 verstorbene frühere Polizeibeamte dachte sich Trainingsprogramme auf dem Fahrrad, im Schwimmbecken und bei der Gymnastik aus. Und Deckarm, der einst die gegnerischen Torhüter mit seiner Sprungkraft und seiner Schnelligkeit nicht selten vor unlösbare Probleme gestellt hatte, kämpfte wie einst auf dem Handballfeld. Dabei habe er sich immer wieder gesagt: „Ich kann, ich will, ich muss.“ In 104 Länderspielen warf Deckarm einst 381 Tore. Mit dem VfL Gummersbach erspielte er dreimal die deutsche Meisterschaft (1974, 1975, 1976) und gewann zweimal den Europa-Pokal (1974, 1978).

    Viele Freunde

    Seit 2002 lebt der „wahrscheinlich kompletteste Handballspieler aller Zeiten“ (Vlado Stenzel) in seiner Heimatstadt Saarbrücken in einer eigenen Wohnung des paritätischen Wohlfahrtsverbandes. Betreut zwar, aber völlig selbstständig. Mitten in der Stadt, gegenüber dem Beethovenplatz, wo seine vielen Freunde parken können. Am Wochenende besucht er regelmäßig seine 83-jährige Mutter, und wenn die, wie vor zwei Jahren, mal ins Krankenhaus muss, schauen regelmäßig seine Handball-Kameraden aus der 78er WM-Mannschaft vorbei. Wenn nicht, verbringt er die Abende bei einer Wohngemeinschaft in diesem „Haus der Parität.“

    Mutter Ruth Deckarm: „Es ist ein Glück, dass Joachim so viele Freunde hat. Seine finanzielle Absicherung lässt mich ruhig in die Zukunft blicken.“ So wehrt er sich mit Erfolg gegen ein Invalidenleben in völliger Abhängigkeit und ist in den letzten Jahren auch immer wieder auf Reisen gegangen. 1999, zum Beispiel, hat er in Ägypten sogar die Gruppen für die nächste Weltmeisterschaft ausgelost. Und bei der letzten WM im Januar begrüßte ihn beim Eröffnungsspiel in Berlin Bundespräsident Horst Köhler als umjubelten Ehrengast.

    Scheu vor der Öffentlichkeit, wie in den ersten Jahren nach seinem monatelangen Wachkoma, kennt er längst nicht mehr. Daheim in Saarbrücken beantwortet er an seinem Computer mit Spezialtastatur – und betreut von einer jungen Helferin – akribisch seine tägliche Fanpost, wobei er über tausend Autogrammwünsche per anno zu erledigen hat. Darunter auch Verehrerpost aus Amerika, die einfach an „Joachim Deckarm, Saarbrücken“ adressiert war und ihn selbstverständlich erreicht hat. „Dennoch“, sagt sein Freund Heiner Brand, der Trainer der Handball-Weltmeister von 2007, „dürfen wir nicht zu optimistisch sein. Denn Jo wird immer auf Hilfe von außen angewiesen bleiben.“ Ein Leben lang.

    Klaus Blume
    Erschienen am 30. März 2007 in "die sportzeitung"