Ich weiß das es schon genügend Themen gibt in denen es um Artikel oder sonstiges geht. Aber ich finde dieser Artikel ist so bewegend geschrieben, dass er einen eigenen Thread verdient. Danke Olaf dafür, das ist der beste Artikel über die WM, den ich gelesen habe.
ZitatAlles anzeigenUnvergessliche Momente
Siebzehn bewegende Weltmeisterschafts-Tage sind vorüber. Siebzehn Tage, in denen eine Truppe, die aufgrund der Zusammenstellung und der Verletzungssorgen alles war, nur nicht Titelkandidat. Die an dem Turnier gewachsen ist, von den Fans getragen wurde und eine unvergleichliche Begeisterung ausgelöst hat. Ob Berlin, Dortmund oder Halle/Westfalen - mit jedem Spiel wuchs die Leidenschaft und die Euphorie. Den absoluten Höhepunkt erlebte Köln und die Kölnarena, die während der WM zum Spaßtempel wurde.
Es gibt viele Momente, die bei dieser Weltmeisterschaft für immer in Erinnerung bleiben werden. Ganz besonders gilt das für diesen nervenaufreibenden Halbfinal-Krimi gegen Frankreich, als Deutschland mehrfach wie der Verlierer aussah, am Ende aber doch ins Finale einzog. Viel ist darüber geredet worden, von Schiedsrichterhilfe und Betrug. Frankreichs Trainer Claude Onesta sprach sogar Tage nach diesem „verfluchten Donnerstag“ von einer Mafia, die seine ach so tolle Mannschaft um das Finale gebracht habe.
Dabei meinten es die Schiedsrichter eigentlich gut mit ihm und seiner Equipe. Zumindest aus ihrer Sicht. Als 15 Sekunden vor dem Ende Guigou Torsten Jansen den Ball klaut, bedrängte der hinten dranhängende Hamburger den Franzosen, der ins Straucheln geriet. Die Schiedsrichter wollten den Franzosen in dieser Situation schlicht und ergreifend einen Vorteil gewähren und pfiffen den von vielen so gesehenen Vorteil ab. Henning Fritz war außerhalb des Tores, weil Markus Baur in kurz zuvor als Anspielstation weiter nach vorne beordert hatte. Dass Guigou daher leicht ins Tor werfen konnte, war dem Schiedsrichter nicht klar, als er unmittelbar vor dem Wurf abpfiff.
Natürlich ist das eine ärgerliche Situation gewesen für die Franzosen. Es wäre der Ausgleich gewesen, der möglicherweise zum Glücksspiel Siebenmeterwerfen geführt hätte. So konnten sich die Deutschen nach 2003 erneut den Finaleinzug sichern. Nach dem Abpfiff spielten sich in der Kölnarena unvergleichliche Szenen ab. Henning Fritz etwa ließ den Ball, den er soeben gehalten hatte, nicht mehr los, lief losgelöst von dieser Erde an der Seitenlinie entlang über das Spielfeld, bis er von seinen Mannschaftskameraden eingefangen und unter einer Spielertraube begraben wurde. Die 19.000 Zuschauer in der Kölnarena flippten schier aus, sprangen und schrien ihre ganze Anspannung, die sich in den fast zwei Stunden zuvor aufgebaut hatten raus.
Das körperliche Leiden der Zuschauer
Jeder, der in der Kölnarena war, wird berichten können, wie sehr dieses Spiel dem eigenen Körper zugesetzt hatte. Keiner, der dieses Spektakel live verfolgen durfte, wird je vergessen, wie nervenaufreibend das Spiel war, wie im Minutentakt Euphorie und Verzweiflung sich abwechselten. Es war ein Spiel für das kollektive Gedächnis, ein Jahrhundertspiel, wie sie im Handball immer wieder vorkommen.
Es war die Geburt des Mythos Kölnarena. Die riesige Halle im Stadteil Deutz, die von außen nur halb so gigantisch wirkt, wie sie tatsächlich ist, hatte noch nie bei einer Sportveranstaltung eine derartige Lautstärke erlebt. Keinen, der dazu noch in der Lage war, hielt es auf seinem Sitz, die Fernseh- und Radioreporter, die an diesem Donnerstag diese Dramatik in die weite Weld schildern mussten, rangen um Luft und Worte. Am Ende erklang dieses langgezogene „jaaaaaaaaaaaaaaaaaaa“, dass einfach nur das Unfassbare ausdrücken wollte. Finale erreicht.
Krimi gegen Spanien
Schon das erste Spiel der DHB-Auswahl in der Kölnarena ließ die Grundfesten bedenklich wackeln. Es war Viertelfinale und der Gegner hieß, na klar, Spanien. Die Erinnerungen an diesen Jahrhundertkrimi von Athen 2004 waren noch hellwach. Doch 45 Minuten hatte die deutsche Mannschaft mit zwei bis drei Toren geführt, Oliver Roggisch organisierte die Abwehr bravourös, war überall zu fnden. Einzig Urios war kaum in den Griff zu kriegen, doch sehr viel mehr, als Anspiele auf den Ex-Kubaner fielen den Spaniern nicht ein.
Es war das zweite Spiel dieser WM, in dem Michael Kraus Regie führen musste, nachdem Markus Baur verletzt pausieren musste. Markus Baur saß zwischen den TV-Kommentatoren hinter der Bank und gab dem jungen Göppinger immer wieder Tips. Mit tollen Spielzügen dominierte Deutschland das Spiel, Holger Glandorf drehte richtig auf und flog immer wieder durch die spanische Abwehr.
Trotzdem wurde es noch einmal spannend, als Spanien neun Minuten vor dem Ende zum 23:23-Ausgleich kam. Doch die Hamburger Pascal Hens und Toto Jansen sorgten für die entscheidenden Tore zum Halbfinal-Einzug. Wieder war es ein Sieg des Kollektivs über eine Ansammlung von Einzelkönnern und Krafthandballern.
"The Arena is sold out!"
Das letzte WM-Spiel in der Kölnarena am 4. Februar 2007 wird den Beteiligten sicherlich auf ewig in Erinnerung bleiben. 19.000 Zuschauer, einmal mehr hieß es: "The Arena is sold out!". Ein unermessliches schwarz-rot-goldenes Fahnenmeer soweit das Auge blickte. Und eine enorme Erwartungshaltung. An jenem Tag sollte diese junge Mannschaft, die in der Vorrunde bereits mental am Boden lag, für den größten deutschen Handball-Triumph seit 1980 sorgen. Sie sollte das erreichen, was der "Goldenen Generation" um Zerbe, Kretzschmar, Petersen und Schwarzer versagt blieb.
Mit 21:14 führten die Gastgeber der WM. Kurz vorher hatte sich Henning Fritz an der Wade verletzt, ein Muskelfaserriss setzte ihn außer Gefecht. Polen witterte die Chance, fasste neuen Mut und konnte bis auf 22:21 verkürzen, weil den deutschen Spielern im Angriff plötzlich die Nerven flatterten. Doch in genau dieser, der kritischsten Phase des WM-Finales, stand wie ein Fels in der Brandung Johannes Bitter. Er hatte bisher kaum Einsatzzeiten gehabt, war völlig kalt und musste sich nun in die Tempogegenstöße der Polen werfen. Bis zum 22:21 kamen sie heran, dann endlich konnte Johannes Bitter, der jeden zweiten Ball abwehren konnte, erleichtert feststellen, dass seine Jungs im Angriff wieder trafen.
Feier vor dem Kölner Rathaus - Foto: Andreas Walz
Drei Minuten vor dem Ende war klar, wer Weltmeister werden würde, die 19.000 Fans sangen in einem Chor bis zum Abpfiff "Oh, wie ist das schön" und sorgten für eine unvergleichliche Atmosphäre. Überhaupt trugen die deutschen Fans ihre Mannschaft durch das Turnier. Sie, die Zuschauer sind die klaren Gewinner der WM. Sie verdeckten die Mängel, die der DHB und die IHF in der Vorbereitung auf die Titelkämpfe zu verantworten hatten. Sie sorgten für ausverkaufte Arenen und Feststimmung, die dem großen Bruder Fußball in Nichts nachstand.
Für diejenigen, die bisher hauptsächlich dem Fußballsport frönten, gab es nach dem Kahn/Lehmann-Disput einen Moment höchster Irritation. Henning Fritz lag am Boden, signalisierte seine schwere Verletzung. Johannes Bitter kam zu ihm gerannt, half ihm hoch und trug ihn zusammen mit dem Physiotherapeuten vom Platz. Dass es unter Torhütern Konkurrenz gibt, wird niemand bestreiten, doch in erster Linie verstehen sie sich als Team. Dieses Bild, als Henning Fritz, gestützt auf Johannes Bitter, den Platz verließ, ließ bei vielen Neu-Handballexperten die Hochachtung vor den beiden Schlussmännern ins Unermessliche steigen. Dabei hätte eigentlich Bitter für diese Aktion eine Zeitstrafe bekommen müssen. Doch die Schiedsrichter und Polens Trainer Bogdan Wenta tauschten nur kurze Blicke aus und verständigten sich damit darauf, dieses Bild nicht zu zerstören. Es hätte ohnehin niemand verstanden.
Als endlich der Schlusspfiff ertönte und Deutschland zum dritten Mal Weltmeister war, konnten die Protagonisten um Bundestrainer Heiner Brand kaum ahnen, was sie damit ausgelöst hatten. Überall im Land brach sich der Jubel seinen Weg, kam es zu Autokorsi, lagen sich bei den vielen Public Viewing Veranstaltungen die Menschen in den Armen. Dass auf dem Kölner Rathausplatz 30.000 Menschen fahnenschwingend auf die Mannschaft warteten, hätten sie sich sicher nicht ausgemalt in ihren Träumen. Über 90 Minuten ließ sich die Mannschaft dort feiern, sang immer wieder "Deutschland hat die geilsten Fans der Welt" und sogar Heiner Brand ließ sich zu einer bewegenden Dankesrede hinreissen.
Was auch immer die selbsternannten Experten nun sagen werden über die Gründe der Euphorie, über den vermuteten Boom und den schon häufig ausgebliebenen Booms auch in anderen Sportarten, eines haben die Handballer erreicht: Sie waren für einige Tage das beherrschende Thema einer ganzen Nation, sorgten für einen nie gekannten Rummel und Einschaltquoten, die in die Fußball-Phalanx einbrachen. Die Mannschaft, der keiner etwas zutraute und zutrauen konnte, hat Großes für den Handball in Deutschland geleistet. Wenn sie am kommenden Wochenende wieder in der Bundesliga gegeneinander spielen, wird der Dank der Fans ein weiteres Mal auf sie niederprasseln. Sie haben es sich verdient, denn sie sorgten für unvergessliche Momente.