NORDIRLAND
Um 17 Uhr gab die IRA den Befehl zum Frieden
Aus Dublin berichtet Ralf Sotscheck
Mehr als 1800 Menschenleben hat der bewaffnete Kampf der Irisch-Republikanischen Armee (IRA) gekostet. Am Donnerstag erklärte die Untergrundorganisation, dass sie den bewaffneten Kampf einstellen, sich aber nicht auflösen werde. Damit endet ein blutiges Kapitel irischer und britischer Geschichte.
Dublin - Auch am Ende lässt die IRA es nicht an militärischer Strenge fehlen. "Allen IRA-Einheiten ist befohlen worden, die Waffen niederzulegen", heißt es in der IRA-Erklärung. "Alle Freiwilligen sind instruiert worden, der Entwicklung rein politischer und demokratischer Programme durch ausschließlich friedliche Mittel zu dienen. Die Freiwilligen dürfen nicht an irgendwelchen anderen Aktivitäten teilnehmen." Diese Befehle gelten seit heute, 17 Uhr MEZ - ein historisches Datum in der Geschichte Großbritanniens.
Von später Reue oder Skrupeln ist das Dokument freilich nicht gekennzeichnet. Der bewaffnete Kampf sei völlig legitim gewesen, sagt die IRA, auf deren Konto rund 1800 Tote gehen. Nun aber gebe es eine Alternative, um die britische Herrschaft in Nordirland zu beenden. "Die Entscheidung ist nach einer langwierigen internen Meinungsbefragung getroffen worden", schreibt die IRA in ihrer Erklärung. "Das Ergebnis dieser Konsultation war eine sehr große Unterstützung unter den IRA-Freiwilligen für die Friedensstrategie von Sinn Féin."
Schnell sollen IRA-Repräsentanten Kontakt mit der Internationalen Abrüstungskommission unter Leitung des kanadischen Ex-Generals John de Chastelain aufnehmen, um die Ausmusterung der Waffen, die bereits vor Jahren begonnen hat, so schnell wie möglich zu Ende zu führen. Man wolle "das Vertrauen der Öffentlichkeit stärken". Die IRA hat einen katholischen und einen protestantischen Pfarrer als Zeugen für das Zerstören der Waffen eingeladen.
Raub und Mord
Mit den aktuellen Terror-Anschlägen in London hat die Erklärung der IRA übrigens nichts zu tun. Der politische Flügel der IRA, Sinn Féin ("Wir selbst"), ist bereits Anfang des Jahres stark unter Druck geraten, weil eine IRA-Einheit bei einem Bankraub in Belfast 26,5 Millionen Pfund erbeutet hat. Außerdem waren sowohl Leute von der IRA, als auch von Sinn Féin an der Ermordung von Robert McCartney beteiligt. Der Sinn-Féin-Sympathisant war nach einem Streit in einer Belfaster Kneipe regelrecht aufgeschlitzt worden.
Sinn-Féin-Präsident Gerry Adams sagte, die IRA-Erklärung sei eine Herausforderung für beide Bevölkerungsteile Nordirlands sowie für die Regierungen in London und Dublin. "Ich appelliere an alle, sorgfältig zu lesen, was die Armee zu sagen hat, und vereint und standhaft zu bleiben", sagte Adams an die Mitglieder von Sinn Féin und IRA gerichtet.
Der britische Premierminister Tony Blair bezeichnete die IRA-Erklärung als "Schritt einzigartiger Größenordnung". Das sei "vielleicht der Tag, an dem der Frieden den Krieg ersetzt", fügte er hinzu. Als besonders erfreulich bezeichnete Blair das Versprechen der IRA, auch allen anderen Aktivitäten abzuschwören, was ein "Ende krimineller Machenschaften" bedeute. Der irische Justizminister Michael McDowell meinte dagegen, dass sich die IRA auflösen müsse, bevor Sinn Féin in eine Mehrparteienregierung eintreten könne. "Es kann keinen wirklichen Frieden geben, solange die IRA existiert", sagte er.
Versuch der Demütigung
Die Mehrparteienregierung und das Belfaster Regionalparlament, die nach Unterzeichnung des Belfaster Abkommens vom Karfreitag 1998 eingerichtet wurden, sind 2002 suspendiert worden, weil die IRA angeblich potentielle Angriffsziele auskundschaftete. Bei den Wahlen zwei Jahre später sind Sinn Féin auf katholischer Seite und die Democratic Unionist Party (DUP) des Pfarrers Ian Paisley auf protestantischer Seite zu den stärksten Parteien geworden, während die gemäßigten Kräfte auf beiden Seiten nahezu bedeutungslos wurden.
Paisley weigerte sich jedoch, sich mit Sinn-Féin-Vertretern in einem Raum aufzuhalten, geschweige denn, über die Bildung einer Regierung zu reden. Die Verhandlungen im vorigen Jahr auf Schloss Leeds bei London, bei denen Boten zwischen DUP und Sinn Féin vermitteln mussten, scheiterten, weil Paisley darauf bestand, dass die Abrüstung der IRA fotografiert werde. Die IRA lehnte das als "Versuch der Demütigung" ab. Gestern sagte Paisley: "Was auch immer die IRA in ihrer Erklärung sagt - es zählen nur Taten, keine Worte. Wir hoffen, dass die britische Regierung das genauso sieht."
Britische Vorleistung
Die IRA hatte 1994 einen Waffenstillstand verkündet, der bis auf den Bombenanschlag auf das Londoner Finanzzentrum Canary Wharf 1996 bis heute gehalten hat. Der Friedensprozess begann jedoch bereits 15 Jahre früher, als zehn Mitglieder der IRA und einer Splitterorganisation im Gefangenenlager Long Kesh bei Belfast im Hungerstreik für die Anerkennung als politische Gefangene starben.
Der Hungerstreik löste eine breite Welle der Sympathie in Irland aus, so dass die junge Sinn-Féin-Garde um den heutigen Präsidenten Adams zum ersten Mal über einen ausschließlich friedlichen Weg zu einem vereinten Irland nachdachte. Er nahm Verhandlungen mit den katholischen Sozialdemokraten und der Dubliner Regierung auf, zu denen später auch die britische Regierung stieß.
Trotz vieler Rückschläge gipfelten die Verhandlungen 1998 schließlich im Belfaster Abkommen, das der Krisenprovinz Frieden bringen sollte. Da es jedoch so schwammig formuliert war, damit alle Beteiligten es ihren Anhängern als Sieg verkaufen konnten, begannen die Meinungsverschiedenheiten, sobald es um die Umsetzung des Abkommens ging. Ob die IRA-Erklärung nun den Weg ebnet für die Wiedereinsetzung der Regierung und des Regionalparlaments, muss sich erst noch erweisen.
Paisley ist ein entschiedener Gegner des Belfaster Abkommens, weil es den Katholiken seiner Meinung nach zuviel Mitsprachrecht in nordirischen Angelegenheiten einräumt. Er hat es in der Vergangenheit stets geschafft, Bemühungen um eine Einigung in Nordirland zu torpedieren. Inzwischen ist er zwar 79 Jahre alt, aber seit den vergangenen Wahlen der mächtigste Mann in Nordirland. Wenn ihm die IRA-Erklärung als unzureichend erscheint, wird es auch diesmal keine politische Lösung geben.
Die IRA-Erklärung hatte sich bereits am Vorabend angedeutet, als die britische Regierung den IRA-Mann Seán Kelly freiließ, der 1993 einen Bombenanschlag auf ein Fischgeschäft in einem protestantischen Viertel Belfasts verübt hatte. Kelly Komplize Thomas Begley rief eine Warnung und zündete eine Bombe, die elf Sekunden später explodieren sollte. Doch sie ging sofort hoch.
Begley und neun weitere Menschen starben in den Trümmern des Fischladens, Kelly - er war damals 21 Jahre alt - verlor ein Auge und die Kraft in seinem linken Arm. Ein Gericht verurteilte ihn zu neun Mal lebenslänglich. Doch nach sieben Jahren, am 28. Juli 2000, wurde er aufgrund des Belfaster Abkommens als einer der letzten Gefangenen freigelassen.
Am 18. Juni dieses Jahres musste er wieder ins Gefängnis, weil der britische Nordirland-Minister Peter Hain sagte, er habe Beweise, dass Kelly wieder aktiv in den Konflikt verwickelt war. Er legte diese Beweise jedoch nicht vor. Politische Beobachter vermuteten, die britische Regierung wolle Kelly als Druckmittel auf die IRA benutzen.
Diese Einschätzung hat sich nun bewahrheitet: Gestern Abend wurde Kelly freigelassen, heute gab die IRA ihre lang erwartete Erklärung ab.
Quelle: Spiegel.de